Bringt Corona zur Besinnung ? 

Von Mechthild Lohmann                                                                                           

Mir ist, als wäre ich in diesem Jahr mehr als einige Monate älter geworden. Vielleicht ist der Grund nicht nur die reale Anstrengung, die die Coronazeit mit sich gebracht hat. Eher scheint es die unabweisbare Erfahrung von Unsicherheit zu sein, die sich eigenartig verdichtet hat. Existentielle Gefährdung, Verletzlichkeit, Unverfügbarkeit, Endlichkeit des Lebens werden ungewohnt deutlich bewusst. Etwas davon sickert unwiderruflich ein ins Körpergedächtnis. Ich spüre es als eine Art leises, inneres Zittern.

Ich habe gründlich aufgeräumt, als schaffe Ordnung Sicherheit. Ich habe mein Haar wachsen lassen, als könne es mich schützen. Ich telefoniere ausgiebig mit anderen, als könne das die Ungewissheiten aufheben. Geholfen hat mir etwas anderes: Ich habe mich auf den Atemhocker gesetzt, mich in Stille innerlich gesammelt, dem Körpererleben gelauscht und mich versenkt in die Atemtiefe. Dem verlässlichen inneren Atemstrom nachzuspüren gibt mir Ruhe. Ich habe mich mit vertrauten Kolleginnen virtuell zur Atemmeditation verabredet. Jede sitzt an ihrem Ort zur gleichen Zeit. Das verbindet und stärkt ganz erstaunlich. Auf sich selbst zurückgeworfen sein fordert die eigenen Kräfte heraus. Es kann jedoch auch Kraft geben.

Gegen das Coronavirus ist noch kein Kraut gewachsen. Kein probates Mittel, das schnelle Heilung verspricht, steht zur Verfügung, keine erfolgreiche Therapie oder sichere Vorbeugung. Das Virus ist nicht einfach aus der Welt zu schaffen. Auch Verdrängen hilft nicht. Das nahezu schutzlose Ausgeliefertsein einer möglichen Infektionsgefahr kann Hilflosigkeit, ja Angst erzeugen. Wir sind gewohnt, bei Gefahr zu handeln, rasche Lösungen umzusetzen. In Bezug auf Corona ist wenig zu tun, eher etwas sein zu lassen. Der gewohnte Alltag verändert sich. Schutz besteht im zuhause bleiben, in Isolation. Risiken liegen im körperlichen Kontakt. Abstand halten wird zum Gebot. Unterstützung durch Nähe entfällt. Vorsicht vor dem Nächsten übt sich ein. Das Distanzhalten erschöpft.

Das Coronavirus selbst bleibt unsichtbar, in vielfacher Vergrößerung erscheint es durchaus schön, eine mit Saugnäpfchen umkränzte rote Kugel. Der Begriff Corona war mir bisher in ganz anderem Zusammenhang bekannt. Die Atemlehrerin Bettina von Waldthausen (+ 2016) hatte den sog. Corona-Prozess in die Runde der Atemkolleginnen eingebracht, als Methode spirituell geleiteter Gruppenarbeit. In diesen Monaten lehrt Corona mich einen besonnenen Umgang mit dem Unsichtbaren.

Das coronabestimmte Leben kann anstrengend sein. Überall sind digitale Formen der Kommunikation auf dem Vormarsch. Gleichzeitig ist der natürliche Wunsch nach körperlicher Nähe schwer zu unterdrücken. Auf unendlich viele Umarmungen und Küsse wird in diesen Monaten verzichtet. Auch diejenigen, die verständnislos und ablehnend auf die Einschränkungen reagieren, könnten innehalten. Auch diejenigen, die an geheime Mächte als Ursache für Pandemie glauben oder sie leugnen, könnten zur Besinnung kommen. Für jeden scheint es ratsam, einen Weg der inneren Gelassenheit zu beschreiten.

Ich suche Orte und Situationen auf, die meine Besinnung fördern und mir guttun. Ich gehe zum nahe gelegenen Stauweiher, betrachte die spiegelnde Wasseroberfläche. Ich lausche den Naturgeräuschen und meinem sich beruhigenden Atem. Im Aachener Dom verweile ich unter der goldene Kuppel, entdecke im marmornen Fußboden die Grabplatte der heiligen Corona. Sie gilt als frühchristliche Schutzpatronin vor Seuchen. Ich blicke in die Tiefe des nächtlichen Sternenhimmels und fühle mich aufgehoben als Teil des unendlichen Alls.

Wissenschaftler forschen und erklären das Coronavirus eifrig, Journalisten kommentieren die Pandemie vielstimmig, Politiker treffen täglich neue Entscheidungen. Weltweit gibt es inzwischen mehr oder weniger strenge Regeln für den Umgang mit Corona. Es gibt Maßnahmen und es gibt Streit um Maßnahmen. Mensch und Mikrobe beeinflussen einander wie in einem Tanz, kommentiert Laura Spinney schon die Spanische Grippe von 1918.

Fest steht: das größte Ansteckungsrisiko liegt im unmittelbaren Atemaustausch. Das Coronavirus wird durch Partikel in der Atemluft übertragen. So wird gerade das Element, das für alle Menschen auf dem Planeten lebensnotwendig ist, zur potentiellen Gefahr. Wenn ich im Atemsitzen die Luft durch die Nase einströmen lasse und im Körper in allen Zellen wahrnehme, ahne ich manchmal etwas von dieser weltweiten Verbundenheit. 

Von der Pandemie ist die gesamte Menschheit betroffen. Und doch kann die Bedrohung  nur jeder einzelne bewältigen. Jeder ist ganz gefordert, mit Körper und Geist und Seele, mit den ureigenen Kräften, die jetzt aufzurufen sind.

Ein individueller Schicksalsschlag bringt Betroffene meist zur Besinnung auf das Wesentliche. Die Coronapandemie bietet jedoch die Chance zur grundlegenden Besinnung auch auf weltweit transfomatives Denken und Handeln.  Diese Krise ist ein Weckruf, auf unsere Lebensgrundlagen zu achten, sagt die Professorin für Klimawandel und Gesundheit Sabine Gabrysch. Es gehe darum Verantwortung zu übernehmen und mit der Natur zu arbeiten. Ist nicht der Atem unsere allererste Lebensgrundlage, auf die zu achten wäre? Könnte nicht Atemarbeit in besonderer Weise dazu beitragen, unsere grundlegende, wertvolle seelische Gesundheit zu erhalten und zu pflegen?  

Die Bedrohung durch Corona hat zum Teil andere weltweit auftauchende Risiken aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Andrerseits treten viele dieser von Menschen selbst in jahrzehntelanger Unachtsamkeit verursachten Gefahren nun unvermittelt schärfer hervor: Deutliche Klimaveränderung mit Dürren, Feuersbrünsten, Stürmen und Flutwellen, bedrohliche politische Spannungen, Vernichtungspotentiale, Gewaltausbrüche und Kriege. All das kann Angst machen.

Doch: Angst kann auch sehend machen, erklärt die Psychologieprofessorin Verena Kast den Sinn der Angst.  Das Zulassen von neuen Erfahrungen und auch von Angst ermögliche erst Veränderungen.  Durch eine angemessene Einschätzung der Wirklichkeit stehe der Mensch auf sicheren Füßen. So sieht es auch der Sozialpsychologe Erich Fromm und empfiehlt den Weg von der Existenzweise des Habens zu der des Seins. Angst lasse sich verwandeln in eine Haltung der Zuversicht, ein Grundgefühl der Hoffnung. Psyche und Gesellschaft sind eng verknüpft.

Die Einschränkungen im Bereich des Habens, die wir durch Corona zum Teil erleben, könnte erneut den Blick auf das Sein richten. Der Wegfall von Unternehmungen, das Fehlen mancher Ablenkung und Zerstreuung, das Aushalten von Unwägbarkeiten, das alles ist für viele hierzulande eine Herausforderung. Natürlich sind die Menschen weltweit je nach Lebenssituation sehr unterschiedlich betroffen durch Corona. Da sind Achtung und Solidarität gefragt. Es braucht einen langen Atem, die Spannung auszuhalten. Das Weglassen von Aktivitäten kann Einsichten fördern. Ähnlich wie bei der Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks gilt in der Überflussgesellschaft: Weniger ist Mehr.

 

Manche Planung wird durch Corona hinfällig. Zweimal begebe ich mich, den gerade geltenden Anordnungen folgend, in häusliche Quarantäne. Einen Vorrat am nötigsten habe ich seit langem angelegt. Nun brauche ich vor allem einen Vorrat an Geduld. Flexibilität und Gelassenheit sind gefragt. Die Coronazeit ist das erste belastende Großereignis, das ich erlebe. Die neue Erfahrung schreibt sich ins Langzeitgedächtnis des Körpers ein. Auch jetzt kommt mir die Übung im Atemsitzen zugute. Hier kann ich mich innerlich orientieren. Die Atemhülle schützt und stärkt mich. Ich empfinde Dankbarkeit für jeden kostbaren Augenblick.

Ein Beispiel: Ich schlage die Klangschale an, sammle mich im ruhigen Raum auf dem Atemhocker sitzend, die Füße in warme Socken gesteckt und fest auf dem Boden. Mein Gewicht kann ich nach und nach abgeben, bis ich mich ganz getragen fühle auf dem Atemhocker. Ich spüre, wie sich das Zwerchfell langsam entspannt. Immer mehr kommen die Organe in ihrer guten Anordnung in die Wahrnehmung. Der Rippenkorb gibt festen Halt, die sich aufrichtende Wirbelsäule vermittelt Sicherheit. Kehle und Kieferwinkel, Stirn und Augenbrauen dürfen sich lösen. Ich lasse meine Gedanken ziehen. Das gibt Raum bis unter das Schädeldach. Im weiteren Körperspüren stellt sich das Bild von einem Lot ein, das bis in den tiefen Beckenraum pendelt. Später nehmen die Nieren eine Verbindung mit der Herzkraft auf. Ich bleibe noch eine Weile sitzen und lasse die Erfahrung nachwirken. Intuitiv bin ich dem inneren Atemstrom gefolgt. Ich habe mich von der Atemanwesenheit führen lassen im Vertrauen auf diese tragende Lebensenergie. Erfrischt und gestärkt gehe ich zurück in den Alltag. Ich bin froh, dass mir diese Möglichkeit, über das Körperspüren unbewusste Schichten in mir zu wahrzunehmen, durch jahrelange Praxis zugänglich ist.

Corona bedrückt, doch wenn wir uns auf den Weg nach innen machen, können wir hindurch gehen in eine tiefere, vorgeburtlich angelegte Schicht. Die tiefenpsychologisch orientierte Atemlehrerin Irmela Halstenbach erinnert an den fundamentalen Lebensatem, der uns in jeder Situation zur Verfügung steht und sicher trägt, wenn wir bereit sind. Über die leibliche Erfahrung in Kontakt gehen zu sich selbst, Instinktwissen aktivieren und sich darauf verlassen, dieser Zugang ist vielfach überlagert, aber mit einiger Übung erreichbar. Sogar in der Zusammenschaltung einer Gruppe per Video wirkt die Atemanleitung von Irmela Halstenbach intensiv. Der innere Atem leitet uns dann. Durch die Schritte im Atembewusstsein entsteht ein Grundgefühl von Zuversicht und Hoffnung, von Gehaltensein in einem sinnvollen Leben.

Bringt Corona uns zur Besinnung? Ja, insofern es uns auf den Kern unserer Existenz zurückwirft, indem es uns verweist auf die Verbindung alles Lebendigen. Es geht um Besinnung auf sensibles Wahrnehmen und gegenseitiges Achten, auf das Aktivieren innerer Kraftquellen. Für manchen vermag die Coronaerfahrung Anstoß sein zu neuer Sinnsuche. Wenn die Ökonomin Maja Göpel in ihrem lesenswerten Buch dazu einlädt, unsere Welt neu zu denken, möchte ich, angesichts von Corona, ergänzend anregen, unsere Welt neu zu fühlen.

In meiner Atemarbeit habe ich es schon lange geübt, geschehen zu lassen und anzunehmen, was sich im Moment zeigt. Auch im Focusing, das ich seit einiger Zeit praktiziere, geht es um die Kunst des Annehmens, so ein Buchtitel der Focusing-Lehrerin Ann Weiser Corell. Nur was ich ehrlich anschaue, ohne es zu bewerten, kann sich wandeln. Jede Situation trägt die kommende bereits in sich. Leben bedeutet ständige Veränderung. Diese Prozesshaftigkeit betont der Focusingbegründer Gene Gendlin. Weiter Gehen mit dem Nicht-Wissen, wie es weiter geht, darum geht es.

Die Psyche hat viel zu verarbeiten in Coronazeiten. Umso wichtiger ist es, sich immer wieder inneren Freiraum zu schaffen, sich frei zu machen von allzu sorgenvollen Gedanken. Dabei ist es ratsam, die Aufmerksamkeit nicht an alle Sensationen zu  binden, die in den Medien verbreitet werden, Energien nicht zu verausgaben mit der Verarbeitung immer neuer Detailinformationen. Ich merke, wie notwendig es ist, sich nicht zu stark mental vom Coronathema besetzen lassen, sondern den Blick frei und gesammelt zu halten für das mir Wesentliche. Ich versuche, mir eine gewisse stoische Haltung zu Eigen zu machen. Eine stabile psychische Verfassung hält mich etwas unabhängiger von äußeren Turbulenzen. Mein Leitmotiv: In-Regung statt Auf-Regung.

Doch diese Haltung muss gepaart sein mit Verantwortung, was bedeutet, in einer Situation die eigene Antwort zu finden. Ich bin dankbar, die tiefenpsychologisch orientierte Atemweise kennen gelernt zu haben. Ich sehe darin keine unmittelbar übertragbare Methode, eher einen möglichen spirituellen Weg unter anderen. Jedem wünsche ich die Chance, den passenden, persönlichen Pfad zu finden, um die ureigenen Kräfte zu entwickeln. Bei aller Verschiedenheit sind wir Menschen verbunden und dürfen uns dem Lebensfluss immer neu anvertrauen.

Auch im Coronathema geht es um die Wahrnehmung der Ganzheitlichkeit des Geschehens. Ganzheitlich spüren bedeutet für mich, neben Corona auch allen anderen Gefährdungen im Blick zu behalten, mich selbst immer wieder in Balance zu bringen und zu halten, sowohl auf die innere Stimme als auf die äußeren Entwicklungen zu achten. Ich lasse auch meine Träume zu mir sprechen. Sie spielen in der tiefenpsychologisch orientierten Atemarbeit eine wichtige Rolle beim Zugang zum Unbewussten und geben Hinweise auf das, was uns zutiefst bewegt.

Bedrohungen verschiedenster Art werden für uns Menschen bleiben, wir sind eingebunden in organische Prozesse. Die konkrete Gefährdung durch Corona drängt dazu, neben der äußeren in gleichem Maß die innere Gesundheit zu schützen. Das bedeutet, sich auch um die spirituelle Dimension zu kümmern, wenn es um das gelingende Leben geht. Irmela Halstenbach erkennt in dem, was uns zustößt, eine Chance, dass Schicksal und Leben in Einklang kommen. Bei Carl Gustav Jung heißt dieser Prozess Individuation: sein eigenes Wesen voll entfalten.

Corona ist keine vorübergehende Krise ohne weitere Folgen. Je länger Corona dauert, desto klarer wird, dass es einer tiefen, umfassenden Besinnung bedarf, in jedem einzelnen und kollektiv. Die Kraft der Atemanwesenheit mag auch für die Zukunft tragen, wie immer sie aussehen wird.

 

Literatur

Ann Weiser Cornell: Die Kunst des Annehmens, BoD 2013

Erich Fromm: Vom Haben zum Sein, Stuttgart 1989

Sabine Grabysch: Mit der Natur statt gegen sie, Die Zeit 36/2020

Gene Gendlin/Johannes Wiltschko: Focusing in der Praxis, 3. Aufl. 2007

Maja Göpel: Unsere Welt neu denken, München 2020

Irmela Halstenbach: Gedichte, 2019

Irmela  Halstenbach: Die stille Anwesenheit des inneren Atems, Atem 1/2020

Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit, 2020

Carl Gustav Jung: Ausgewählte Schriften, 2011

Verena Kast: Vom Sinn der Angst, 7. Aufl. 2014

Mechthild Lohmann: Atempädagogik als Begleitung beim Älterwerden, 2009

Laura Spinney: 1918 Die Welt im Fieber, 4. Aufl. 2020