ATEMKUNST

Eine Inspiration

von Mechthild Lohmann 

Wenn ich versuche, jemandem die Atemarbeit nach Cornelis Veening (1895-1976)  zu beschreiben, so geht es mir ähnlich, als wenn ich ein Kunstwerk, ein Leseerlebnis, einen Konzert-, oder Theaterbesuch beschreiben soll. Am Ende bleibt Unbehagen, weil ich nicht ausdrücken konnte, was ich erlebt habe, was mich innerlich berührt, ergriffen, aufgeklärt, erschüttert, abgestoßen, begeistert, erheitert, getröstet, verzaubert, vielleicht verwandelt hat.

Kunst ist wohl am besten an ihrer Wirkung zu erkennen. Eben dies scheint mir ganz ähnlich für den Inneren Atem zu gelten. Schon Goethe meinte, Kunst könne nicht eigentlich erkannt oder beschrieben werden, sie wirke ebenso wie die Natur wirkt. Wie die Kunst kann der Atem „seelische Vibration“ (Wassily Kandinsky) erzeugen. Ein deutliches Erkennungsmerkmal der Atemkunst ist ihre qualitative Wirkkraft.

Der niederländische Atemlehrer Cornelis Veening hatte einen unmittelbaren Bezug zur Kunst. Ursprünglich war er Sänger. In den 50er Jahren gab er in einer Berliner Schauspielschule Atemkurse. Oft ließ er Schüler tönen oder zeichnen. Auf die spontanen, kreativen inneren Momente und Prozesse im Atemgeschehen kam es Veening an. Das, was er das „Bewirkende“ nennt, erschließt sich mir annäherungsweise in der Analogie zu einem künstlerischen Akt: es geschieht ganzheitlich, lebendig, absichtslos.

Ich begebe mich auf Spurensuche. Beim Blättern in den „Texten aus Erinnerung an Cornelis Veening“ stoße ich auf zahlreiche Formulierungen von Atemlehrerinnen und -lehrern, die vom Atem sprechen als von schöpferischen Kräften, von Improvisation, intuitiver Erfahrung, innerer Wahrnehmung, individuellem Entwicklungsgang, Spontaneität, von Eingebung und Begabung, von musischem Spiel, von Rhythmus und Poesie. Begriffe häufen sich, die eher künstlerischen Bereichen zuzuordnen sind. Atemprozesse scheinen also ähnlich wie künstlerische Prozesse zu verlaufen.

Lässt man Künstler zu Wort kommen, so sprechen sie oft in der „Atemsprache“: es fließt aus ihnen heraus, sie haben einen langen Übungsweg, sie lassen geschehen, haben Impulse, ihr Schaffen entspringt aus leibseelischer Ganzheit, aus unbewussten Wirkkräften. Von Zufall, Schwingung, Polarität, Spannung und Widersprüchen, Resonanz und Harmonie, vom kreativen Augenblick, vom Ausdruck des Verborgenen, von Hingabe und Entfaltung ist die Rede. Aniela Jaffé beschreibt in ihrem Aufsatz über die bildende Kunst als Symbol interessante Beispiele dafür, wie die moderne Kunst der inneren Schau und den Hintergründen des Lebens Ausdruck gibt. Künstler wie Kandinsky oder de Chirico suchen das Innere im Äußeren, sie lauschen ihrer inneren Stimme, ihren spontanen Eingebungen. Die Kunst hat eine enge Verbindung zur archaischen Welt von Märchen, Mythen, Symbolen und Träumen.

Das Unbewusste ist wie ein Künstler, es sendet seine Botschaften verschlüsselt in Bildern. Kunst wie Atemerfahrung, beide lassen etwas anklingen oder aufscheinen, das bisher vielleicht noch tief im Unbewussten schlummerte. Der Kunst und dem Inneren Atem ist gemeinsam: sie führen in tiefe Seelenschichten, sie bringen im Menschen Verborgenes unwiderruflich zum Bewusstsein. Im Kern geht es beiden um innere Erkenntnis und Selbstentwicklung, um „Individuation“ wie der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung es nennt.

Heilkunst, Erziehungskunst, Kochkunst, Lebenskunst, - gemeinsam ist diesen Begriffen, dass sie sich auf organische Wandlungsprozesse beziehen. Unter dem Aspekt passt Atemkunst in diese Reihe. Kunst hat auch mit Wahrheitssuche zu tun. In allen Zeiten und Kulturen finden sich Dokumente, die etwas überpersönlich Gültiges aussagen. Wie der Innere Atem entspringt Kunst aus leibseelischer Ganzheit im tiefen Unbewussten. Sie weitet den Horizont, lässt den Menschen über sich hinaus wachsen. Für Cornelis Veening waren Eros und Religion die tiefsten Wurzeln der Kunst.

Viele Künstler aller Epochen, vor allem der Romantik, sehen in der Natur eine große Lehrmeisterin. Starke Verbindung zur Natur, zu allem Sinnlichen, Organischen, zur Leiblichkeit, auch das zeichnet Kunstschaffende und Atemlehrende gleichermaßen aus.

„Atem-Kunst - Schöpfen aus dem Moment“ war 2001 das Thema einer AFA-Tagung. Viel Frische und Zuversicht spüre ich jetzt noch aus den gesammelten Vortragstexten. Ich zitiere die Leibphilosophin Annegret Stopczyk, die damals zu Wort kam: „Die Entwicklung von Leibsinnigkeit ist eine Kulturaufgabe im dritten Jahrtausend. Ich halte ein bewusstes sich wahrnehmendes Atmen für eine Kunst, die im dritten Jahrtausend immer mehr zu all jenen Künsten dazugehören wird, die es uns Menschen ermöglichen können, gesünder, älter, liebevoller, friedlicher, kreativer und intelligenter zu werden als wir zur Zeit meistens sind“. (Atem-Kunst, S. 74) Mir gefällt sehr, wie selbstverständlich hier das Atmen als Kunst bezeichnet wird und welche sinnvolle Perspektive und Aufgabe für Atempädagogen und –therapeuten bereits vor rund einem Jahrzehnt formuliert wurde.

Schöpferische Tätigkeit macht Freude und schafft Befriedigung. Auf dem Atemhocker sitze ich zunächst wie vor einer weißen Leinwand oder einem unbeschriebenen Blatt Papier. Während der Innenwendung füllt sich die Leere nach und nach von selbst aus der Tiefe des Unbewussten. In die Atembehandlung gehe ich gesammelt, ohne jede Erwartung. Zu erleben wie unter den achtsam tastenden Händen der Atem im Körper erwacht und lebendig wird, mag eine ähnliche Freude sein, wie eine Figur zu modellieren, ein Instrument zum Klingen zubringen oder ein Gedicht zu schreiben. Jeder künstlerische Prozess ist einmalig. Er erwächst aus dem Moment. Begabung und Persönlichkeit mögen eine Rolle spielen. Was entsteht, ist ein Original, ein Feld, eine Aura. Oft sind spontane, spielerische Elemente dabei.

Das bedeutet nicht, dass Atemkunst nicht auch Arbeit und Anstrengung, Lernen und Üben sein kann. Dies verbindet sie ebenfalls mit jeder anderen Kunst: sie ist Arbeit an der eigenen Entwicklung. Atemkunst braucht solide handwerkliche Technik ebenso wie geistige und  künstlerische Freiheit. Es mag unterschiedliche Stilrichtungen und Schulen geben. Diese können sich gegenseitig befruchten. Ich habe es erlebt, dass sich ein Gruppenraum verwandelt zur Werkstatt, zum offenen Atelier, in dem alle auf unterschiedliche Weise intensiv am Atemprozess arbeiten und teilhaben, im liegenden Spüren, im Berühren mit den Händen, im sitzenden Wahrnehmen. So ähnlich stelle ich mir die Atmosphäre in den Werkstätten der Bildhauer und Maler zur Zeit Michelangelos in Italien vor: Gesammelte Aktivität, schöpferisches Schweigen, tiefe Freude, gemeinschaftliches und doch persönliches Schaffen am je eigenen Stoff. So kann auch der Atem authentisch und lebendig wie von selbst im Raum wirksam sein, als inspirierender Lehrmeister, jenseits von Lehrmeinungen und Übungswegen.

Für die Zukunft tragend ist, dass der „kreative Kern des Atemgeschehens aus der leibseelischen Ganzheit im tiefen Unbewussten“ (Irmela Halstenbach) in aller Frische, Leichtigkeit und Klarheit immer neu zum Vorschein kommt und ganz individuell erfahren wird. Das Erleben dieses schöpferischen Kerns stößt innere Wandlungs- und Wachstumsprozesse  an. Mit ihren natürlich belebenden, selbst heilenden und fruchtbar anordnenden Kräften entfaltet „Atemheilkunst“ eine erstaunliche und überzeugende Wirksamkeit.

Literatur

Atem-Kunst. Schöpfen aus dem Moment. 14. Wissenschaftliche Arbeitstagung des AFA Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Atempflege e.V. München 2. bis 4. November 2001, darin:
Stopczyk, Annegret: Philosophierendes Atmen.
Berlin, Edition Lit. 2001

 Ferrucci, Piero: Werde was du bist. Selbstverwirklichung durch Psychosynthese.
Reinbek, Rowohlt 1986

Gebser, Jean: Gesamtausgabe, Band VII, Gedichte, Aussagen, Die schlafenden Jahre, Traumbuch.
Schaffhausen, Novalis Verlag 1980

Goethe, Johann Wolfgang: Über Laokoon, in:
Goethe, Johann Wolfgang: Gesammelte Werke Band 12, Schriften zur Kunst und Literatur. Hamburger Ausgabe
München, Deutscher Taschenbuch Verlag durchges. Aufl 1994

Halstenbach, Hanns: Jung’sche Psychologie zur Atemlehre von Cornelis Veening. Texte und Leseempfehlungen.
Norderstedt, Books on demand 2009

Halstenbach, Irmela: Atem holen aus der Tiefe. Texte 1999 – 2008.
Norderstedt, Books on demand 2008

Jaffé, Aniela: Bildende Kunst als Symbol, in:
Jung, Carl Gustav: Der Mensch und seine Symbole.
Olten, Walter 8. Aufl. Sonderausgabe 1985

Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst.
Bern, Bentelli Verlag 1952

Nachmanovitch, Stephen: Das Tao der Kreativität. Schöpferische Improvisation in Leben und Kunst.
Frankfurt a.M., O.W. Barth 2008

Texte aus Erinnerung an Cornelis Veening anlässlich seines 100. Geburtstages am 15.1.1995
Herausgegeben vom Waldmatter Kreis.
Bonn 1995

Der Text ist inspiriert durch ein Klausurtreffen der VAVE® Vereinigung für Atemtherapie und Atempsychotherapie nach C. Veening e.V. im September 2010 in Rommerz.
Er wurde veröffentlicht in: atem, die zeitschrift, Hrsg.: Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Atempädagogik und Atemtherapie e.V.
Heft 01/2011, S. 28-34.

Mechthild Lohmann, Atempädagogin AFA®, Dipl.Bibl. Dipl. Päd., Aachen, meloh(at)gmx(dot)de