„Friedfertig ist, wer Frieden in sich entstehen lassen kann.“   C.F. von Weizäcker 1)   

Macht Atemarbeit friedfertig ? 

von Mechthild Lohmann 

 

Immer häufiger frage ich mich angesichts der Nachrichten, die mich aus aller Welt tagtäglich erreichen: Warum gehen wir Menschen nicht friedvoller miteinander und schonender mit dem Planeten um? Warum läuft so vieles ganz anders als ich und viele andere es sich wünschen? Und: Wie werde ich mit all den Meldungen von Gewalttätigkeiten und Katastrophen fertig, ohne mich sinnlos aufzuregen, ohnmächtig zu resignieren oder verhärtet abzustumpfen? 

Klar, zu allen Zeiten gab es in der Welt neben Schrecken, Grausamkeit und Hass gleichzeitig Harmonie, Güte und Liebe. Heute ist besonders das Negative durch mediale Verbreitung allgegenwärtiger. Ich bekomme gut gemeinte Ratschläge: Nachrichtenhygiene betreiben, allzu Negatives ausblenden, das Positive sehen. Mein Unbehagen, meine Sehnsucht nach Einklang, nach umfassendem Frieden bleibt. Wie also gehe ich als eher innenorientierter Mensch mit dem alarmierenden Weltzustand um? Wie ist die Außenwelt mit der Innenwelt ganzheitlich zusammen zu bringen? Welche Möglichkeiten und Grenzen hat in diesem Zusammenhang Atemarbeit?

Ich setze mich auf den Atemhocker. Jedes Mal, wenn ich mich in der Atemmeditation meinem Körper nach innen spürend zuwende, wird etwas in mir selbst angerührt. Das einfache aufrechte Sitzen für ungefähr eine halbe Stunde bewirkt eine Veränderung. Sie ist oft minimal, manchmal erstaunlich, für mich meist wesentlich. Ich bin still, lasse den Atem gleichmäßig fließen. Je diffuser ich denke, desto deutlicher spüre ich meinen Körper, vertraue seiner Intelligenz. Je weniger ich fokussiere, desto klarer nehme ich Empfindungen, Gefühle, Bilder wahr. Je mehr die Außenwelt zurücktritt, desto realer erscheint die Innenwelt. Je mehr das Bewusstsein gedimmt ist, desto belichteter ist das Unbewusste. Ich kann den Zusammenhang zwischen Körper und Psyche in diesem stillen, manchmal durch wenige Worte angeleiteten Atemsitzen unmittelbar wahrnehmen. „Es ist wie ein

Zusammengehen von Denken und Fühlen“ 2) und „Innere Prozesse sind immer mit dem Augenblick verbunden und beziehen sich sehr direkt auf die Gegenwart“ 3) 

Ich vertiefe mich, dem Atem folgend, weiter nach innen, bleibe jedoch wach und durchlässig nach außen. Es ist eine persönliche Entscheidung, das gewohnte Muster der rationalen Weltwahrnehmung zumindest versuchsweise einmal zu durchbrechen und sich auf einen spirituellen Zugang, ein

Verstehen mit dem Herzen einzulassen. Dieses bewusste Unterbrechen des unruhigen Denkens, das Innehalten im alltäglichen Forttreiben der Gedanken und Eindrücke wirkt unmittelbar: meist beruhigend, oft erhellend, klärend. „Erst wer Körper und Geist dem Jetzt öffnet, kann aufgewühlte Gefühle beruhigen und tiefe innere Freude und Verbundenheit mit allem Lebendigen erfahren. Der Weg dazu ist unser Atem“ 4) 

Denken, Fühlen und leibliche Erfahrung sind im Atemprozess eng verbunden. Tiefenpsychologisch orientierte Atemarbeit bezieht geistige und seelische Erkenntnis direkt auf den Körper zurück. Sie verbindet unbewusste Tiefenschichten mit bewusster Wahrnehmung und ermöglicht die Erfahrung von Ganzheit und von Verbundenheit mit sich und der Welt. Dies wird in der Atemarbeit nach C. Veening®  - ebenso wie in einigen Richtungen mystischer Spiritualität - erlebt und beschrieben. 

Ich erfahre, innerer Frieden lässt sich nicht mit äußeren Mitteln einfach herstellen oder verordnen, er kann sich lediglich von selbst einstellen, immer wieder neu und anders, wenn ich bereit bin. Dazu gehört wohl auch, den eigenen Anteil am Zustand der Welt zum jeweiligen Zeitpunkt anzuerkennen: nicht gegen den Unfrieden anderer ankämpfen, sondern sich im Atem als Teil der gesamten

Menschheit erkennen. Da beginnt das Feld der Schattenarbeit: nicht auf das Böse als das ganz andere zeigen, sondern sich selbst ehrlich nach der meist unbewussten eigenen Destruktivität befragen. Misstrauen, Wut, Eitelkeit und Machtgelüste in sich selbst erkunden, sie vielleicht erst im Spiegel anderer entdecken, die man ablehnt. „Wir müssen das Selbstbild eines perfekten Menschen opfern, dafür sind wir echter, lebendiger, authentischer.“ 5) 

Der Atem lehrt uns, das Eigene im Licht des Fremden zu erkennen. Womöglich werden wir gerade durch die Anerkennung und Integration unserer eigenen Schattenanteile friedensfähiger. Wir können, stimmig mit uns selbst, positive Energie ausstrahlen und damit der Welt ein Körnchen Frieden geben. Vielleicht gelingt es uns damit, eine Spur zum besseren Weltklima beizutragen – im Sinne des ökologischen Zustands des Planeten als auch des menschlichen und politischen Umgangs miteinander. Denn „Wer die Konflikte in seinem eigenen Inneren bewältigt, leistet einen wirkungsvollen Beitrag zum Frieden.“ 6) 

Jede und jeder wirkt während des ganzen Lebens im jeweiligen Umfeld nach je eigener Art und Weise. So hängt die individuelle Dimension der Atemarbeit eng zusammen mit der gesellschaftlichen. Wie der Atem das Individuum von innen her verändert, so ordnet er auch dessen Umfeld anders an. Die Wirkung zieht Kreise, wie das Sandkorn in der Wüste oder der Tropfen im Meer, fast unmerklich, absichtslos und bescheiden. 

Große weltweite Zusammenhänge und nahes persönliches Umfeld sind nicht zu trennen. Die

Verantwortung zur Schattenarbeit gilt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv. Weiter suche ich nach vermittelnden Wegen zwischen Außen und Innen.

 Beim Atemsitzen in der Gruppe mache ich eine eindrucksvolle Erfahrung. Ich senke die Sinne weit nach innen, wandere mit dem Atem durch meine Körperräume, vertiefe mich mehr und mehr in die unmittelbare Leiberfahrung. Nach und nach führt mich diese vertraute Übung zurück in eine Schicht, die meinem Alltagsbewusstsein schwer zugänglich ist. Ich erlebe mich vollständig mit Körper, Geist und Seele von den Fußsohlen bis zum Scheitel– einen Moment lang lebt sozusagen alles in allem. Gleichzeitig ist in diesem gemeinsamen Atemprozess im Raum in einer großen Gruppe ein besonderes, tragendes, ermutigendes Feld entstanden. Für mich ist es eine Erfahrung von

Ganzheitlichkeit, ja von Frieden, der womöglich weit über dieses unmittelbar erlebte Erfahrungsfeld hinaus wirkt. „Je tiefer nach innen, desto weiter nach außen.“ 7)  

Im gemeinsamen Atemsitzen im Feld der Gruppe erfahre und lerne ich modellhaft, wie es zwischen Menschen und Menschengruppen sein kann, wenn gegenseitiges und auf sich selbst Achten ernsthaft praktiziert wird. Fremdes als gleichwürdig achten, Gegensätze aushalten, Verbindendes gegenüber Trennendem stärken, Vergebung statt Vergeltung üben, dem Unzulänglichen standhalten, - als alltägliche Übung verwandelt dies in Richtung einer geweiteten, gewaltlosen, friedfertigen Haltung. Ich bin sicher, ganzheitliche Atempraxis ermutigt und bestärkt auf dem Weg,  mit sich und der Schöpfung achtsamer und friedvoller umzugehen.

Könnte die Auseinandersetzung mit dem Schatten, dem noch Unerkannten, nicht auch für große Gemeinschaften und deren Verantwortungsträger gelten und notwendig werden, wenn sie sich gegenseitig Schuld zuweisen und einander bekämpfen?

Die Innenwendung in der tiefenpsychologischen Atemarbeit ist keineswegs ein Alibi für Abkehr vom Politischen, für tatenloses Zusehen bei Unrecht und Gewalt. Indem sie das tiefe Selbst-Bewusstsein stärkt, kann Atemarbeit Ohnmacht und Wut lösen und in berechtigte Empörung verwandeln. Meditatives Versenken und aktives Einmischen schließen einander gar nicht aus. Vielmehr lässt sich aus einer geklärten, stabilen Innenwelt heraus viel klarer der rechte Moment und Ort zum wirksamen Handeln in der Außenwelt erkennen. Innerer und äußerer Friede bedingen sich wechselseitig.

In Religionsgemeinschaften wird um Frieden gebetet. Friedensforscher, Journalisten und andere machen ihren Einfluss geltend. Engagierte Menschen und unterschiedlichste Gruppen leben bewusst umweltverträglich und beispielhaft friedlich. Sie alle geben Zeugnis ab von einer Vision zukünftigen Zusammenlebens. 

In mir wächst das Vertrauen, dass in vielen Menschen überall in der Welt die Sehnsucht nach

Wandel, nach Ganzheit, nach Frieden mit sich und anderen groß ist. Die Hoffnung erstarkt, dass diese Energien sich mehr und mehr ausdrücken und entfalten werden. Bei aufmerksamer Beobachtung sind vielfältige Oasen der Veränderung wahrnehmbar, wie ein feines Gewebe. Friede kann sich verbreiten durch das Wirken einzelner. Das Feld ist jedoch viel größer und umfassender als ein einzelner oder eine Gruppe allein. In einer tiefer liegenden Bewusstseinsschicht sind wir Lebewesen ohne es zu wissen unsichtbar miteinander verbunden. 

Ja, ich meine, Atemarbeit macht friedfertig. Sie birgt besonders für introvertierte Menschen die große Kraft, zum friedlichen Erhalt und zur Heilung des Planeten beizutragen. Meine Vision vom Frieden lässt mich zugleich bescheiden an das erinnern, was Irmela Halstenbach vom Atemlehrer Cornelis Veening sagt: „Wie jeder gute Forscher kannte er seine Grenzen und hatte Ehrfurcht vor dem Unerkennbaren. Das spürte man, wenn er vom Atem sprach.“ 8) 

 

1)      Carl Friedrich von Weizäcker, Der bedrohte Friede, München 1994

2)      Cornelis Veening, Vortrag für Heilpraktiker in: Atemweisen, Wiesbaden 2013, S. 162

3)      Irmela Halstenbach, Atem holen aus der Tiefe, Norderstedt 2008, S. 41

4)      Thich Nhat Hanh, Ich pflanze ein Lächeln, München 1992

5)      Verena Kast, Der Schatten in uns. Die subversive Lebenskraft, München 2001, S. 40 

6)      Gottlieb Gut, Weg zum Frieden tiefenpsychologisch. Frankfurt 1992

7)      Atemweisen. Wurzeln und Gestalt der Atemlehre von Cornelis Veening, Wiesbaden 2013, S. 173

8)      Irmela Halstenbach, a.a.O., S.12

 

 

                Mechthild Lohmann                                      www.atemarbeit-aachen.de